Mitten in Berlin treffen sich Ende der 90er Jahre zwei Brüder, um zusammen Fußball zu spielen. Die beiden wachsen in unterschiedlichen Familien auf, obwohl sie fast gleich alt sind. Der Ältere ist damals 12, der andere 10. Und der Ältere kann was, das der Jüngere nicht kann: Er ist beidfüßig. Schießt mit links genauso gut, wie mit rechts. Traurig fährt der 10-Jährige zurück nach Hause. Drei Monate später treffen sich die Brüder wieder, spielen wie damals gemeinsam auf dem Fußballplatz. Doch eines ist anders: Der Jüngere schießt plötzlich mit links genauso gut, wie mit rechts.

Die beiden Brüder auf dem Berliner Fußballplatz heißen Kevin-Prince und Jerome Boateng. Und Jerome, so erzählt Prince, habe in jungen Jahren schon gewusst: Wer nicht an seinen Schwächen arbeitet, wird nichts Großes erreichen. Andere 10-Jährige wären wütend geworden, wenn der große Bruder mehr kann. Hätten geweint oder sich gestritten. Nicht aber Jerome. Jerome blieb ruhig, machte die Schmach nur mit sich selbst aus und trainierte wie verrückt, um diese Schwäche abzustellen. Diese Eigenschaft hat er sich bis heute behalten. Boateng redet wenig über Rückschläge, lieber arbeitet er an sich, um gemachte Fehler nicht zu wiederholen.
Der Fußballer Boateng hat fast alles gewonnen. Viel mehr, als er es sich nach dem Training des linken Fußes damals hätte ausmalen konnte. Drei Jahre nach der erlernten Beidfüßigkeit geht es für Jerome zur Berliner Hertha. Kurz vor seinem 19. Geburtstag verlässt er seine Geburtsstadt, um sich beim HSV in der Bundesliga etablieren zu können. Die Fußballwelt merkt schnell: Hier wächst ein großes Talent heran. Nach drei Jahren in Hamburg wagt er den Schritt auf die Insel zu Manchester City. Glück bringt ihm dieser Wechsel aber nicht, trotz des Pokalsieges zieht es ihn zurück nach Deutschland. Nicht irgendwo hin, sondern zum Rekordmeister nach München. Und hier in München schlägt er auf Anhieb ein, schafft es direkt zum Stammspieler.

Niederlagen machen ihn stark für die grossen Siege

Sein erstes Jahr beim FC Bayern nimmt eine grausame Endung. Boateng muss miterleben, wie er mit seinen Teamkollegen in allen Wettbewerben zweiter wird. Oder anders gesagt: Er verliert sowohl das Finale im Pokal als auch das in der Champions League. Er verliert das Endspiel um die Königsklasse nicht irgendwo oder irgendwie. Er verliert es auf dramatische Art und Weise im eigenen Stadion vor euphorischen Fans. Boateng spielt eine herausragende Partie an diesem Abend im Mai 2012, wie alle seine Mitspieler auch. Mit einer 1:0 Führung geht es in die letzten beiden Minuten, alles ist angerichtet für ein großes Freudenfest. Doch dann kommt die 88. Minute. Die 88. Minute, in der Boateng vergisst, bei einer gegnerischen Ecke den Stürmer zu decken. Das 1:1 ist der Startschuss für einen traurigen Restabend. Boateng verliert das Finale mit den Bayern und liegt danach am Boden. Mit der größten sportlichen Enttäuschung der Karriere muss er im Anschluss zur EM 2012. Auch hier folgt eine Niederlage kurz vor dem großen Ziel.
Boateng ergeht es so, wie damals, als er erst 10 Jahre alt war: Jemand anderes ist besser als er. Und Boateng wäre nicht Boateng, würde er nicht zurückdenken, sich wieder aufrichten und arbeiten. Arbeiten an den eigenen Schwächen und am lange ersehnten internationalen Titeltraum.

Für Jerome Boateng gingen die Finals nicht ohne Grund verloren. Der Glaube, dass Gott einen festen Plan für jeden vorgesehen hat, gibt ihm Halt und lässt ihn Rückschläge besser verkraften. So auch im Sommer 2012. Boateng steht wieder auf. Weiß, welche Ziele er verfolgt. Und arbeitet hart an sich, um sie auch zu erreichen. 2012 befindet er sich mit den Bayern im Tal der Tränen, als alles verloren ging. Am 25. Mai 2013 steht er im Londoner Wembley Stadion auf dem Rasen und blickt dankbar gen Himmel. Dankbar und glücklich über den Abend, den er erleben durfte. An diesem Abend gewinnt er mit dem FC Bayern die Champions League, das größte, was es im Vereinsfußball zu gewinnen gibt. Sie waren aufgestanden und hatten an sich gearbeitet, wie der 10-jährige Jerome damals in Berlin. Keine Selbstverständlichkeit, dass man nach derart gravierenden sportlichen Rückschlägen noch stärker zurückkommt. Auf diesen Erfolg setzt Boateng noch einen drauf. 2014 wird er in Brasilien mit dem DFB-Team Weltmeister. Immer wieder war man hauchzart vor dem Titel gescheitert, diesmal war der große Tag gekommen. Das goldene Tor erzielte Mario Götze, Symbolfigur wurde der blutende Bastian Schweinsteiger. Stiller Held des Spiels aber war Jerome Boateng. Über 120 Minuten lang nahm er einen Spieler namens Lionel Messi aus dem Spiel und sorgte dafür, dass Argentinien zu kaum einer Chance kam. „It all started with a dream“, schrieb er am Abend vor dem Endspiel auf Instagram. Keine 24 Stunden später war aus dem Traum Realität geworden. Angekommen in der Glückseligkeit, Weltmeister. Nur ein Jahr nach dem Champions League Triumph feierte der Berliner den größten Titel, den es zu gewinnen gibt.

2013 gewinnt Boateng mit Bayern die Champions League.

Hinfallen erlaubt, liegen bleiben verboten. Boateng und Heynckes feiern den CL-Sieg 2013. © Imago

Stilsicheres Vorbild

 

Mit dem sportlichen Erfolg kam auch das andere Standbein Boatengs immer mehr auf. Jerome ist Trendsetter, Stilikone, Designer und Influencer. Eine hohe Social-Media-Präsenz ist auch seinen Kollegen nicht abzusprechen. Boateng aber ist eine Marke in der DFB-Elf, ein Vorbild für die Jugend. 2015 wählte ihn das Magazin „GQ“ zum stilvollsten Mann des Landes, aus seiner Leidenschaft für teure Klamotten macht er keinen Hehl. In erster Linie ist Boateng Fußballer, in zweiter Linie Entertainer. Sein Vermarktungspotenzial ist riesig, Rapper Jay Z hat ihn dafür sogar unter Vertrag genommen, als ersten Fußballer und Europäer.

Oftmals gilt er als Sunnyboy der Nationalelf. Als jemand, der auffallend viele Leidenschaften neben dem Profifußball hat. Style, ausgefallene Frisuren, Klamotten, Brillendesign, Boateng ist nicht in eine Schublade zu stecken. Er liebt das privilegierte Leben eines Stars, ohne über die Strenge zu schlagen oder sich stets im Luxus zu präsentieren. Dort, wo er vor knapp 20 Jahren den linken Fuß trainierte, ist er daheim. Seine Heimat und seine Familie sind Boateng heilig. So gern er seine Fans in seinen Alltag blicken lässt, so wenig äußert er sich auf Nachfrage zu seinem Privatleben. Der Medienprofi weiß, was er der Welt zeigt und was er lieber für sich behält. Der private Jerome Boateng ist dem fußballerischen Jerome Boateng überaus ähnlich. Er spricht nicht groß über Niederlagen und Rückschläge, sondern klärt mit sich selbst, wie er diese Fehler nicht noch einmal macht. Auf sportlicher Bühne kommt er nach Niederlagen noch stärker zurück, im Privatleben ist er sein eigenes Vorbild und hält an seiner Kämpfernatur fest. Seine Zwillingstöchter sind sein ganzer Stolz, mit ihnen und seiner Verlobten Shirin leben mittlerweile alle zusammen in München.

In der Stadt, in der er als Talent den Durchbruch zum Weltstar schaffte. Dort, wo Boateng keine leichten Jahre seit dem WM-Titel erlebt hat. Langwierige Verletzungen warfen ihn immer wieder zurück, Kritik wurde laut, ob er jemals wieder zu alter Form zurückfinden würde. Zur WM-Form. Als er der beste Verteidiger der Welt war. Boateng realisierte: Der 10-jährige Junge von damals weiß, was zu tun ist. Kämpfen, an seinen Schwächen arbeiten, seine Stärken weiter trainieren und allen zeigen, was in einem steckt. Und der heute 29-jährige Jerome tag genau das. Er kam zurück und war auf gutem Weg, wieder der alte zu werden. Kurz vor der WM konnte ihm aber auch der in der Kindheit erlernte Ehrgeiz nicht vor einer weiteren Verletzung bewahren. Wieder musste er eine schmerzhafte Niederlage in der Champions League hinnehmen, wie schon 2012. Aber mittlerweile weiß er: Nach jedem Rückschlag wartet die Arbeit. Ist die Arbeit getan, wartet etwas anderes: Die Belohnung. Die Arbeit hat Boateng getan, für die Belohnung sind er und das DFB-Team jetzt bereit.
Das, was er damals auf dem Bolzplatz erlebt hat, begleitete ihn ein Leben lang. Sein Bruder Prince war vor 20 Jahren bereits beeindruckt vom Charakter seines Bruders. Mit der Ausnahme von Brasilien 1962 konnte kein Weltmeister den Titel verteidigen. Wenn Jerome Boateng in Moskau erneut den goldenen Pokal in die Höhe reckt und mit seinen Töchtern wie schon 2014 den Triumph genießt, werden beide Brüder an den Kindheitsmoment zurückdenken und wissen: Es gibt nichts, was man nicht schaffen kann.

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