Er ist fast am Ziel. Etwas Größeres als Fußball gibt es nicht. Seit 17 Jahren hat er nur diesen einen Traum, den Traum vom Profi. Jahr für Jahr wird er besser, Jahr für Jahr rückt er näher an sein großes Ziel heran. Er übernimmt früh Verantwortung und steht als Kapitän diverser Jugendmannschaften im Fokus. Dann wird er 18 und steht kurz vor der erträumten Karriere bei seinem Heimatverein. Nichts scheint ihm noch im Weg zu stehen. Nichts außer seinem Knie, das plötzlich nichts mehr vom Fußball wissen will. Gestern greift er nach dem ganz Großen, heute sagt ihm sein Arzt: Hör auf, das wird nichts mehr.

Sieben Jahre später gewinnt er die Champions League und wird Weltmeister. Weil er nie aufgehört hat, an sich zu glauben. Und weil er gekämpft hat. Um seine Karriere, seinen großen Traum. Sami Khedira ist vor jedem Spiel dankbar dafür, dass er es spielen kann. Während andere unbeschwert und stolz den Sprung zu den Profis genießen, muss er mehr als ein Jahr lang dafür kämpfen, überhaupt wieder auf dem Rasen stehen zu können. Damals ahnt er noch nicht, dass er nur wenige Jahre später alles gewinnen wird. Es ist die klassische Jugendkarriere, die er verfolgt. Beim VfB Stuttgart wird er ausgebildet und durchläuft Jahr für Jahr ein Juniorenteam nach dem anderen. Man merkt früh: Hier will jemand ganz nach oben. Fleiß, Ehrgeiz, Respekt und Demut bringen ihn soweit, dass sein Ziel zum Greifen nah ist. Und Fleiß, Ehrgeiz, Respekt und Demut bringen ihn nach der schlimmen Leidenszeit soweit, nie aufzugeben und sich zurück zu kämpfen.

Sami Khedira kämpft gegen alle Zweifler und schafft das, was die Ärzte für nicht möglich hielten: Er wird Fußballprofi. Mit 19 darf er zum ersten Mal in der Bundesliga auflaufen. Schnell wird Khedira Teil der „Jungen Wilden“. Neben ihm tauchen mit Mario Gomez und Serdar Tasci noch zwei weitere Youngster aus dem eigenen Nachwuchs auf. Stuttgarts junges Team wirbelt die Bundesliga auf, plötzlich heißt es vor dem letzten Spieltag völlig überraschend: Noch ein Sieg und wir sind Meister.

Sami Khedira köpft Stuttgart zur Meisterschaft.

Mit 20 Jahren erreicht, wovon andere ein Leben lang träumen. Der Kopfball ins Glück im Mai 2007. ©Imago

Es steht 1:1, die ganze Stadt wartet auf das entscheidende Tor. Und dann kommt Sami Khedira. Kommt, sieht und trifft. Versetzt eine ganze Region in Freudentaumel. Meister werden mit dem Herzensverein, der einem das Fußballspielen beigebracht hat. Meister werden und das alles entscheidende Tor erzielen. Meister werden, nachdem es noch vor wenigen Monaten hieß, die Karriere würde nichts werden. Für Sami Khedira geht mehr als nur ein Traum in Erfüllung an diesem Abend. Ein Spieler aus der eigenen Jugend köpft ihren VfB zur Meisterschaft, mehr geht für die Fans nicht. Er steht da, wo er immer stehen wollte. In Stuttgart wird er schnell zu einem der Publikumslieblinge. Hier ist seine Heimat, fußballerisch wie privat. Der Lohn für die harte Arbeit ist der Anruf von Joachim Löw. Im September trägt er zum ersten Mal das deutsche Trikot, auch der tunesische Verband hat lange um ihn gekämpft.

2010 – das Jahr der Veränderungen

Nach fünf Einsätzen in der Nationalelf steht die WM in Südafrika vor der Tür. Khedira soll als Ergänzungsspieler mitfahren, heißt es. Urplötzlich wird aus dem Ergänzungsspieler der Mann neben Bastian Schweinsteiger. Kapitän Michael Ballack muss die WM verletzt absagen und Khedira rutscht in die Stammformation. Der Neuling spielt, als hätte er noch nie etwas anderes gemacht. Im Spiel um Platz Drei köpft er das entscheidende 3:2 wenige Minuten vor Schluss. Nach der WM kehrt Khedira zurück nach Stuttgart. Allerdings nur, um seine Sachen zu packen, denn Jose Mourinho hatte sich gemeldet. Mit 23 Jahren geht es für ihn nun nach Spanien zu Real Madrid. Die Konkurrenz im Mittelfeld ist galaktisch. Viele halten den Schritt für zu verfrüht, räumen ihm kaum eine Chance auf Spielpraxis ein. Aber Khedira kämpft. Er überzeugt sofort und schafft es auf Anhieb, Stammspieler zu werden. Der Schritt ins Ausland war kein leichter für ihn. Raus aus dem Wohlfühl-Kosmos, rein in eine neue, fremde Welt. Aber es ist auch genau das, was Khedira will. Neue Mentalitäten kennen lernen, eine neue Sprache verstehen und neue Menschen treffen. Er lebt nicht nur auf dem Feld, er möchte auch abseits des Platzes nie aufhören, seinen Horizont zu erweitern.

Sami Khedira setzt sich bei Real Madrid durch.

Durchgesetzt im Weltfußball. © Imago

Khedira ist 3,5 Jahre lang Reals Stabilisator im Mittelfeld. Gleichzeitig ist er zu einem Führungsspieler für Jogi Löw geworden, der für die WM 2014 gesetzt ist. Nach 2002, 2006 und 2010, wo man immer wieder kurz vor dem großen Titel gescheitert war, möchte Deutschland 2014 endlich den ersehnten Pokal nach Hause holen. Dann reißt Khediras Kreuzband. Es sind nicht einmal mehr sechs Monate bis zum Turnierstart. Eigentlich ist jedem klar: Das wird nichts. Wie zu Beginn seiner Karriere scheint ein Traum zu zerplatzen. Wieder sagt man ihm, es ist aussichtslos. Und wieder zeigt er, was ihn ausmacht. Mit unbändigem Ehrgeiz arbeitet er jeden Tag, um doch noch fit zu werden. Und er weiß: Nichts ist aussichtslos. Wenn ich nicht ein Prozent mehr gebe als normalerweise, dann kann ich nicht mit nach Brasilien. Und er gibt dieses eine Prozent mehr.
Er steht nicht nur als Spieler auf dem Feld, sondern vielmehr als Persönlichkeit. Aus dem Nachwuchsschüler von 2010 ist ein gereifter Führungsspieler geworden, der seine Mannschaft führt. Sein größtes Spiel bestreitet er im Finale. Und das, obwohl er gar nicht auf dem Platz steht.

100% für mein Team

Beim Warmmachen spürt er: Es geht nicht. Die Wade macht zu. Kurz vor dem größten Spiel seines Lebens muss er sich entscheiden: Bleibe ich auf der Bank oder probiere ich, ob es nicht irgendwie geht. Khedira weiß: Wenn ich spiele, erfülle ich mir einen Traum. Schon immer wollte ich in einem WM-Finale spielen. Aber Khedira weiß auch: Wenn ich spiele, helfe ich meiner Mannschaft nicht. Im Gegenteil. Ich schade ihr, weil ich nicht 100% geben kann. Er sieht das Finale von der Bank aus. Sein Verantwortungsgefühl der Mannschaft gegenüber ist zu groß. Alleine kann er nichts erreichen, gibt er aber alles für sein Team, gewinnt er neben dem Platz mindestens genauso viel. Deutschland holt bei diesem Turnier den Titel. Endlich. Nach 24 Jahren feiert das Land den ersehnten 4. Pokal.

Sami Khedira ist der Chef im Mittelfeld.

Shootingstar, Ergänzungsspieler, Stammpersonal, Kapitän. Vom Jungspund zum Wortführer. ©Imago

Nach dem Triumpf zählt er bei Real nicht mehr zum Stammpersonal. Er kämpft mit vielen kleinen Verletzungen und ist nicht zufrieden mit seiner Bilanz. Diese innere Zufriedenheit ist das, was Khedira neben der Gesundheit am Wichtigsten ist. Verspürt er sie nicht, ändert er etwas. Er geht nach Turin. In Italien wird sein Spielstil geschätzt und gefeiert. In Spanien wollten sie einen Edeltechniker in ihm sehen, der Iniesta und Co. nacheifert. Die Italiener lieben die passgenaue, zielstrebige und schnörkellose Spielführung ihres Neuzugangs. Nach einer von kleineren Blessuren geprägten ersten Saison zeigt Khedira wieder einmal, was ihn auszeichnet. Er arbeitet an neuen Strategien, um fitter und weniger anfällig für Verletzungen zu werden. Wie immer verlässt er sich dabei nie auf altbewährte Methoden, sondern experimentiert, um das Beste zu finden. Nicht für sich, sondern für seine Mannschaft. Seit zwei Jahre ist er verletzungsfrei. Er wirkt mit 31 fitter als jemals zuvor. Und er ist anerkannter als je zuvor. Die Doppel-Sechs mit ihm und Toni Kroos ist über jeden Zweifel erhaben. Spielt Khedira einmal nicht, ist die fehlende Stabilität sofort bemerkbar.

Denn Khedira strahlt nicht nur Ruhe und Souveränität aus, sondern auch unbändigen Siegeswillen und Respekt für den Gegner. Er bringt das auf den Platz, was ihm auch privat wichtig ist. Seine Mitspieler wissen: Auf Sami ist Verlass. Kapitän ist Manuel Neuer, Chef auf dem Feld ist Sami Khedira. Der einstige talentierte Ergänzungsspieler ist zu einem unverzichtbaren Weltklassespieler gereift. 2010 hat man gehofft, dass sein Einsatz nicht allzu risikoreich wird. 2014 hat man gehofft, dass er seiner Rolle als Stammspieler gerecht wird. Und 2018 hofft man, dass er sich nicht verletzt, denn gleichwertiger Ersatz ist nicht zu finden. Sami Khedira hat genau die Karriere hingelegt, auf die er lange hingearbeitet hat.

Mit 18 Jahren war genau das sein Antrieb: Spielen. Tore schießen. Titel gewinnen. Champions League spielen. Nationalspieler werden. Weltmeister sein. Die niederschmetternde Diagnose der Ärzte ist nie zu ihm durchgedrungen. Denn genau dieser Traum vom ganz großen Erfolg hat ihn immer weiterkämpfen lassen. Er hat alles gewonnen und doch hat seine Motivation kein bisschen nachgelassen. Denn er weiß: Jedes Spiel ist ein Geschenk. Ein Geschenk, das mir niemand zugetraut hat. Ein zweites Mal Weltmeister werden? Klingt deutlich besser, als ein Karriereende mit 18!

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